Das Stück ist ein unverdaulicher Edamer Käse oder Wir sind hier nicht in einer kinderpädagogischen Bewahranstalt


von Christiane Mangold und Tilmann Ziemke

2014 gab es auf dem Schultheater der Länder in Saarbrücken einen kleinen Eklat. Am letzten Tag wurden die Fachforen, in denen die Aufführungsnachgespräche stattfinden, von den Spielleiter*innen boykottiert. Sie fielen ersatzlos aus, stattdessen gab es eine große Diskussion im Plenum, in der deutlich wurde, dass sich die Spielleitungen in den Nachgesprächen nicht wertgeschätzt fühlten. Es entstand der Eindruck, dass es in den Fachforen hauptsächlich darum ging, Fehler herauszuarbeiten, wobei das Positive meist auf der Strecke blieb.

Als Reaktion auf dieses einschneidende Ereignis wurde im Folgejahr auf dem SDL in Dresden ein neues Konzept der Fachforen präsentiert. Während die Foren bisher von Moderator*innen hauptsächlich aus dem Hochschulbereich geleitet worden waren, traten jetzt in den vier Fachforen Zweier-Moderatorenteams an, die aus erfahrenen Theaterlehrer*innen gebildet waren. Zugeordnet war diesen Teams jeweils eine sogenannte Essayistin bzw. ein Essayist. Deren Aufgabe war es, den Diskussionen von außen Impulse zu geben und für die Fachzeitschrift „Fokus Schultheater“ das Festivalthema und dessen Umsetzung in den Aufführungen kritisch zu reflektieren. Diese Regelung ist bis heute nahezu unverändert.

Unser „Blick zurück“ im Spätsommer 2023 geht 63 Jahre zurück ins Jahr 1960. In den Akten des fds befindet sich ein Protokoll der Nachgespräche während der Woche des Schulspiels und Schultheaters vom 31. Oktober bis 6. November 1960 in Itzehoe. Die Protokolle wurden nach Tonbandaufzeichnungen angefertigt.

Wir präsentieren hier einen Zusammenschnitt aus verschiedenen Stückbesprechungen, der sehr schön aufzeigt, mit welcher Unverblümtheit und Schärfe vor sechzig Jahren Fragen der Pädagogik und Methodik des Darstellenden Spiels diskutiert wurden. Quasi als Zeitspiegel verdeutlicht der Ausschnitt dabei aber auch damalige grundsätzliche pädagogische Haltungen zu Schülerinnen und Schülern.


Die Frage: „Wie wurde gespielt?“ steht am Anfang.


Herr K: referiert über die Vorgeschichte der Einstudierung und weist darauf hin, dass seine Aufführung auf eine Podestbühne im Musiksaal der Schule zugeschnitten war.

Herr J: kritisiert die Bühnenausnutzung. Es sei nur in die Breite, nicht in die Tiefe gespielt worden.

Herr P: Warum dauert die Aufführung drei Stunden?

Herr J: Es wurde zu wenig gestrichen, z.B. die Witwenszenen.

Herr F: Die Zuschauer verließen den Saal, „weil die Sache da oben gestorben war“ Die sprecherische Führung war auf breit und nicht auf straff angelegt. Die Stimmführung war künstlich, kaschierend. Bis auf zwei Ausnahmen wollten die Spieler etwas sein, was sie nicht waren. Die Führung ging nicht auf Zusammenspiel, sondern auf ein Nebeneinanderspielen.

Welche Konzeption hatte eigentlich der Spielleiter? Wo ist der Ansatzpunkt für die Übertragung des literarischen Werkes in die Bühnensprache? Dieser Ansatzpunkt muss bei einem Spielleiter vorhanden sein. Dieses Stück hat verschiedene Sinnebenen. Aber wenigstens eine muss durchgehalten werden. Wo war hier ein Stil? Weder in der Schminke, noch im Bühnenbild, noch in den Kostümen. Es war schlechtes Theater, aber rührendes Laienspiel.

Herr W: stellt die sachliche Richtigkeit der Kritik fest, weist aber auf die Überschärfe der Formulierung hin. Er will den Unterschied zwischen Laienspiel und Schulspiel erklärt haben. Was soll an der Aufführung Laienspiel gewesen sein? Man hätte mehr betonen sollen, dass eine viel zu junge Gruppe ein viel zu schweres Stück gespielt habe. Soll man ein so anspruchsvolles Stück überhaupt spielen? Ist es von einer Schulgruppe sprechtechnisch zu bewältigen? W. weist noch darauf hin, dass die Ermüdung der Zuschauer auch auf die schlechte Ausleuchtung zurückzuführen sei. (Beifall)

Herr F: Wir sind nicht in einer pädagogischen Kinderbewahranstalt. Es liegt hier kein pädagogisches Problem vor, sondern ein sachliches» Die pädagogische Frage, ob ein Stück gespielt werden dürfe, müsse gesondert erörtert werden. Es geht jetzt um ästhetische Fragen. Der Spielleiter hat ein Kunstwerk gestalten wollen. Die Frage lautet: Wie können wir einen Aufführungsstil finden, der von Schülern getragen werden kann? Wir müssen eine Möglichkeit der Übertragung auf Schülerebene, nicht auf die des Berufsschauspielers finden.

Herr P: Das „poetische Theater“ war nicht gestaltet worden, sondern einfach ein Handlungsablauf.

Herr K: Das Stück sei „ein unverdaulicher Edamer Käse“, aus dem man sich ein Stück herausschneiden müsse. Er wollte den Weg des Vasco herausarbeiten, nicht das Traumspiel des Mädchens. Der Weg der Selbsttäuschung des Vasco sei ihm wichtig gewesen. Er habe es nicht zur Perfektion gebracht. Aber das sei auch nicht die Aufgabe des Schulspiels. Man solle den Kindern die Spielfreude lassen, auch wenn sie überspielen.

Herr F: Nein!

Herr P: Man soll das Wort Spielfreude weglassen. Jeder Spieler arbeitet an dem Stück.

Schüler: Was soll das Wort Übertreibung in der Einführung?

Herr K: Die Erlebnisbreite der Schüler entspricht nicht dem, was ihm im Stück vorgesetzt wird.

Die Rollen sind alle ältere Menschen und insofern nicht von Schülern nacherlebbar. Jedes Stück mit Erwachsenenrollen können wir nur mit Übertreibung, mit Künstlichkeit spielen. Bei Schehade sind Typen, die man durch Übertreiben spielen kann. Es sind keine Charaktere. Das Stück ist darum auch nicht so schwer wie ein naturalistisches.

Herr P: Übertreibung als Stilmittel muss aber gekonnt sein.

Herr F: Der Schüler hat die Pubertät überwunden, er befindet sich im Bereich der Vorahnung menschlicher Möglichkeiten. Man soll darum nicht übertreiben, sondern wegnehmen, leise spielen. Das Dichterische macht dem Schüler die Tiefe des Erlebnisses als Spiel möglich. Er soll die Rollen nicht werden, sondern sie zeigen. F. weist auf die Holbergaufführung während der letzten Lübecker Woche hin, wo die Aufführung scheiterte, weil die Spieler die Holbergtypen übertrieben. Es wurde eine lachhafte Aufführung, aber keine zu belachende. Lustspiele können nur aus der Bewusstheit gespielt werden, nicht durch einfaches Drauflosspielen. Die Spieler haben es an der echten Spielhaltung fehlen lassen. Und das ist dann auch schon keine rein ästhetische, sondern auch eine ethische Frage. In der Spielhaltung, in der Arbeit am Stück liegt das Ethische.

Die Hauptdarstellerin fragt Herrn F. nach der Realisierungsmöglichkeit seiner Thesen.

Herr P. schlägt vor, dass die Gruppe gesondert mit Herrn F. noch einmal das Werk durcharbeite.

Herr F. ist bereit dazu. Man müsse die künstlerische Leistung erarbeiten. Es habe keinen Zweck, sich mit dem Ausdruck „Laienspieler“ vor der künstlerischen Verantwortung zu drücken.

Es gibt für uns nur eine Bühne und nur eine Kunst, und das ist die Theaterkunst, und der müssen wir in unserem Rahmen entsprechen.

Die Hauptdarstellerin kritisiert die Forderung, am Stück zu streichen.

Herr B. stellt fest, dass Theater und Text zweierlei seien. Und darum muss gestrichen werden.

Herr F. weist noch einmal darauf hin, dass die Spielaufgabe „Schehade“ wertvoll sei, dass die Aufgabe aber nicht gelöst worden sei, weil falsche Mittel verwendet wurden. „Ich halte die Schüler, die da gespielt haben, für fähig, dieses Stück noch besser zu spielen“.

Herr K. erklärt, dass in seiner Einstudierung der Weg des Vasco klar werden sollte. Dass das Stück für Schüler zu lang sei, weist er zurück. Keine Rolle in sich sei zu lang. „Es tut mir leid, dass wir so scharf ins Zeug gegangen sind.“ Er habe das Positive an der Kritik vermisst.

Herr W. spricht zum Stück und weist K.s Auffassung zurück, dass das Stück nicht zu lang sei. Er müsse sich noch einmal fragen, ob das Stück nicht zu lang sei. Er müsse sich noch einmal fragen, ob das Stück für die Schulbühne geeignet sei. Er weist vor allem auf die weiblich verkleideten Soldaten hin.

Herr F: Bei der Wahl des Stückes dürfen wir nicht zu sehr moralisieren oder pädagogisieren. Sonst stehen wir bald in einem sterilen Raum, Gesichtspunkt der Auswahl sei immer die Beziehung zum unterrichtlich Bereiteten. Der Gehalt unserer Zeit werde in den modernen Stücken gestaltet,

Herr B. fragt, was man gesagt hätte, wenn man eine Strawinsky-Symphonie gespielt hätte. Es sei die Frage, ob die schulgegebenen Mittel ausreichen, sowohl geistig als auch technisch. Es ist die Frage, ob das moderne Theater nicht besonders schwierige Mittel erfordere.

Herr F: Wenn man nicht die Mittel hat, muss man verzichten. Wenn sie aber vorhanden sind, dann dürfe man auch Strawinsky spielen. Dann könne man nur noch feststellen Das habt ihr nicht gekonnt, das habt ihr gekonnt.“

Es darf aber nicht die Norm geben: das dürft ihr spielen, das dürft ihr nicht spielen.

Herr K: Schlusswort: Wir werden noch sehen, was die Woche bringt Dieses Stück mussten wir spielen, weil man es nicht nur durch Lesen kennenlernen kann. Wir haben gelernt. Und wie weit man Perfektion treiben kann, werden wir wohl noch sehen.

Herr F: Zwischen Ästhetik und Pädagogik besteht kein Widerspruch. Höchste ästhetische Erfüllung ist höchste pädagogische Erfüllung. Aber wir dürfen Mängel nicht kaschieren durch pädagogische Gründe«. Die faulste Begründung lautet: ...“aber sie haben sich doch Mühe gegeben“. Die Spieler waren vorzüglich, auch gegen die Auffassung des Stückes ist nichts einzuwenden.

Herr M: Drei Ergebnisse der Diskussionen sind bisher festzustellen.

I. Es geht nicht an zu sagen: Schüler können den Urfaust nicht spielen, weil sie noch nicht das Erlebnis des unehelichen Kindes gehabt haben.

II. Man kennt vom Sport her den Mann, der dribbelt und damit das Spiel aufhält. So kann man nicht sagen: der Spieler hat Freude am Spiel und sei darum zu loben.

III. Man kennt den Gewichtheber, der 300 kg heben will und sie nur bis zur Brust bringt. Man kann also nicht sagen: Ich bewundere, welche große Aufgabe er angepackt hat.

Angewandt auf die gestrige Aufführung gilt das Beispiel 2 mit dem Dribbeln. Hier spielte jeder sich selbst. Und was an der „Kleinen Stadt“ gelobt wurde, die gute Spielführung, sie war nicht da. Hier muss das geschehen, was wir mit der Arbeitsgemeinschaft anstreben: eine ganz energische Schulung von Spielleitern, die solche Arbeit anpacken. Es geht nicht, dass die Schüler einfach im Raum herumlaufen. Alle Bewegungen waren völlig sinnlos. Die Freude am Spiel immer zugegeben, aber hier fehlte die Regie. Die Aufgabe war für die Spielschar zu groß.

Schüler: Die Kostümierung war problematisch. Wer nicht auf hohen Absätzen gehen kann, soll es üben.

Herr P.: Die gestrige Aufführung war vielleicht ein Publikumserfolg. Die Mängel dürfen aber nicht durch äußere Schwierigkeiten entschuldigt werden, die vor der Aufführung lagen. Diskutiert werden muss die gestrige Aufführung. Die Bühne wurde benutzt, als wenn sie ein Strick sei.

P. bittet, die Leistung zu diskutieren, und nicht immer äußere Gründe für Mängel anzugeben.

Schüler: Ist es nicht besser, wenn ein Spieler auf die Bühne kommt und spontan seine Bewegung macht, als wenn ein Spielleiter sagt: hier musst du diese oder jene Geste machen?

Herr P.: Der Schüler spielt im Rahmen eines Ensembles, darum muss jede Bewegung abgestimmt werden. Das kann nur ein Spielleiter übersehen.

Man konnte sich nicht des Eindrucks einer Faschingsinszenierung erwehren. Man wartet auf den König mit der Pappkrone. Das gehört ins dritte Schuljahr, aber nicht in ein französisches Gesellschaftsstück.

Herr F.: Lassen wir doch endlich dieses Gerede von der Impulsivität und dem Schöpferischen im Kinde beiseite. Es geht hier um ein Werk. Das hat einen Kristallisationspunkt. Wir müssen unterscheiden zwischen dem Entstehen und dem Entstandenen. Wenn das Stück fertig ist, muss der Spielleiter wissen, um so und so viel Uhr geschieht diese Bewegung. Dann steht das Stück. Wenn aber der Spieler merkt, er kommt an und saust dann los, dann taugt die Aufführung nichts.

Herr H: Die Forderungen, die hier gestellt werden, sind zu hoch und überschreiten das, was in N. geleistet werden kann. Zur Ballettratte ist zu sagen: „Nun finden Sie mal in N. ein Mädchen, das so eine Ballettratte ist“. (Widerspruch im Saal).

Fräulein W: Ich würde mich anbieten, mit dem Mädchen eine Ballettratte zu erarbeiten. Ich würde dem Mädchen helfen.

Herr St: Ich danke für die sachliche Kritik. Mir ist auch alles viel zu blank gewesen an der Inszenierung. Ich kenne die Maßstäbe der Laienspielwochen. Aber wir haben nicht für die Schule einstudiert, sondern für unser Publikum. Ich muss meinen Spielern hier coram publico den Vorwurf machen, dass sie sich selbst den Vorwurf wegen der schlechten Bewegung und des Reliefspiels zugezogen haben. Denn ich habe noch gestern sehr intensiv versucht, sie zu etwas anderem zu bringen, und sie haben es nicht gemacht.

Herr F.: Es handelt sich nicht um Maschinenarbeit, weil Menschen auf der Bühne spielen. Aber ich muss mich darauf verlassen können, dass eine bestimmte Geste zu einer bestimmten Zeit kommt. Ich meine mit dieser Formulierung eine Spitzenforderung. Ich darf mich nicht nur mit einem netten Abend begnügen. Es gibt z.B. die Grenze des Schülers, bei dem ich mir sage, wenn du jetzt noch länger auf ihm herumreitest, dann wird er verrückt. Dann muss ich die Inszenierung ändern, damit der Schüler vom ganzen Stil getragen wird.

Herr K. bittet um schriftliche Fixierung der Forderungen.

Teilnehmer: Eine solche Aufführung gehört nicht vor ein Theaterpublikum, sondern vor die Schule oder vor die Eltern.

Herr M.: Es ist kein Bewegungsspiel. Aber nun schieße ich gleich einen Pfeil auf Sie ab: Ihre Aufführung war auch kein Bewegungsspiel, wie Sie schreiben. Unsere Auffassung von Bewegung geht auseinander.

Fräulein C.: Es wurde viel zu viel gesprochen. Die Schüler hatten so viele Möglichkeiten zur Bewegung: vom Kostüm her, von der Musik und vom Text her, dazu waren die Schüler sehr spielfähig. 90% des Textes hätte man streichen sollen, um das Wort durch Bewegung zu ersetzen.

Herr M.: Die Bewegung ist leider nicht aus der Musik erwachsen. Das war der Fehler.

Teilnehmer: Mich störten sehr die Umgänge.

Herr M.: Das lag an der Bühne. Es fehlten zwei Türen.

Fräulein C.: Herr M., lösen Sie sich doch endlich von dieser Vorstellung, dass alles durchs Publikum hindurchgehen muss. Wir sind doch längst darüber hinaus.

Herr M.: Sicher. Aber dann würde ich sagen: lösen wir uns doch von der anderen Art des Theaterspielens, wo man alles auf Kulissen macht.


Soweit die Ausschnitte. Uns sind die Protokolle von einem damaligen Spielleiter überreicht worden. Er hatte mit der Hand auf das Manuskript geschrieben: „Beispiel, wie damals ‚geholzt‘ wurde.“ Aber interessant ist schon auch die „pädagogische Haltung“, die hinter vielen Diskussionsbeiträgen steht: „Lassen wir doch endlich dieses Gerede von der Impulsivität und dem Schöpferischen im Kinde beiseite. Es geht hier um ein Werk. […] Es gibt für uns […] nur eine Kunst, und das ist die Theaterkunst.“

Man sieht, es hat sich viel getan in den letzten sechzig Jahren im Schultheater.

Für Nachbesprechungen sind viele neue Formate entwickelt worden, die versuchen, die oftmals eingefahrenen Formen des Sprechens über Aufführungen aufzubrechen, um möglichst viele Teilnehmer*innen zu Wort kommen zu lassen und konstruktive, wertschätzende Kritik zu ermöglichen, ohne zu verletzen. (s. dazu Johannes Kup, GesprächsRäume. Formate des Sprechens über Schultheater, in: Fokus 19, 2022, Onlinemagazin für Theater und ästhetische Bildung, Raum.Bühne, hrsg. vom Bundesverband Theater in Schulen: www.fokus-schultheater.de)

Ein interessantes Format haben wir gerade durch einen Tipp entdeckt: Das Arts-Methode