Rache ist Blutwurst oder: „Der Zuschauer hat immer recht“

In der ersten Folge haben wir gezeigt, dass Spielleiter in den sechziger Jahren zu den Aufführungsnachbesprechungen nicht unbedingt mit Glacéhandschuhen erschienen. Aber auch Schüler*innen gingen damals oft nicht gerade zimperlich miteinander um.

von Christiane Mangold und Tilmann Ziemke

In der ersten Folge haben wir gezeigt, dass Spielleiter in den sechziger Jahren zu den Aufführungsnachbesprechungen nicht unbedingt mit Glacéhandschuhen erschienen. Hier steht ausdrücklich Spielleiter, denn Spielleiterinnen waren damals rar gesät und den wenigen, die es gab, darf man wohl zubilligen, dass ihre Aufführungskritik weniger unverblümt und empathischer war.

Aber auch Schüler*innen gingen damals oft nicht gerade zimperlich miteinander um. Auf dem ersten Schultheaterfestival, an dem ich mit meiner Gruppe teilnahm, war es üblich, nach den ersten zehn Minuten zu entscheiden, ob man sich das Stück bis zu Ende ansehen wollte oder ob man besser den Saal vorzeitig verließ. So kam es in den Aufführungen oft zu einem geräuschvollen Aufbruch ganzer Reihen – und das nach relativ kurzer Zeit.

Dass auch Schüler kein Blatt vor den Mund nahmen, zeigt folgende kleine Anekdote, die mir eine bayerische Spielleiterin einmal erzählte:

Auf einem bayerischen Schultheaterfestival zog sich eine Aufführung schleppend dahin. Im Publikum kam langsam Gemurre auf. Schlimmer kann es nicht mehr werden, dachte man, aber dann folgte der Höhepunkt, auf dem der mitspielende Lehrer einen qualvollen Tod sterben musste. Vielleicht um die Aufführung zu retten, spielte er sich dabei die Seele aus dem Leib, bis schließlich ein kleiner achtjähriger Knabe im Publikum von seinem Sitz aufsprang und laut in den Saal krähte: „Mein Gott, wie lange will er denn noch sterben?“ Einige qualvolle Minuten waren noch zu überstehen, dann war das Ende erreicht. Ein Spieler trat an die Rampe, würgte den dürren Beifall ab: „Ich habe leider noch eine traurige Mitteilung zu machen. Der Autor unseres Stückes hat sich vor einer Woche von einer Brücke in den Tod gestürzt.“ In die beklemmende Stille hinein platzte die kraftvolle Stimme des kleinen Jungen: „Das kann ich gut verstehen.“

Dazu passt eine Anekdote, die ich aus eigenem Erleben beisteuern kann:

Rache ist Blutwurst

Endproben in der Himmelfahrtswoche. Es wird von morgens bis abends geprobt. Obwohl es ein anstrengender Tag war – zwischendurch wurden auch noch die letzten Bühnenbauten vollendet –, wollen der Spielleiter und ein paar Spieler sich die Aufführung der Nachbarschule ansehen. Es wird ein Klassiker von Schiller gegeben. Bis zur Pause vergehen 70 lange Minuten. Man beschließt, sich in der Pause unauffällig zu verdrücken und auf die zweite Hälfte zu verzichten. Schließlich beginnt am nächsten Morgen wieder ein harter Probentag.

Aber wie das so ist in einer Kleinstadt, der vorzeitige Aufbruch blieb nicht unbemerkt. Die benachbarte Theater-AG, erfuhr man, war zutiefst beleidigt.
Zwei Wochen später gelangte das eigene Stück endlich zur Premiere. Zur dritten Aufführung hatte sich die Theater-AG der Nachbarschule angekündigt. Oha! Hoffentlich würden die sich ordentlich benehmen! Tatsächlich benahmen sie sich vorbildlich. Sie saßen in der vorletzten und letzten Reihe und folgten der Aufführung still und konzentriert.

Pause.

Nach der Pause – die letzten beiden Reihen: leer! Aha. Einfallsloser geht’s ja wohl nicht. Dachte man. Aber nach etwa sieben Minuten öffnet sich die Tür. Ein heller Lichtkorridor fällt auf die Bühne und unterbricht brutal die stille Szene. Herein kommen mit lautem Getöse die Schüler und Schülerinnen der Nachbarschule, nehmen polternd, stühle- und füßescharrend Platz, im lauten Gespräch vertieft. So als hätte man gar nicht gemerkt, dass das Spiel schon wieder begonnen hat. Dann wieder konzentriertes Zuschauen.

Respekt! Keine billige Retourkutsche, sondern eine intelligente Antwort auf den eigenen vorzeitigen Abgang. Doch nicht so schlecht, die Gruppe!


Ich möchte diese Folge mit einem kleinen Aufruf verbinden: Ich habe ein gutes Dutzend solcher kurzen Anekdoten aus meiner eigenen Spielleiterzeit gesammelt. Ich würde daraus gerne eine größere Sammlung machen und sie veröffentlichen. Deshalb bitte ich alle, die dazu etwas beisteuern könnten, mir ihre kleinen Geschichten vom Schultheater zu schicken: tilmann.ziemke@t-online.de

Als Dankeschön im Vorwege gebe ich hier noch eine Geschichte zum Besten, die ich auf einem Festival erlebt habe:

Fegen und Stricken

Geschehen auf einem bundesweiten Schultheaterfestival. Es wurde Faust gegeben. Gar nicht mal so schlecht. In historischen Kostümen zwar und textgetreu inszeniert, aber überwiegend gekonnt gespielt. Die Schüler*innen sahen gespannt zu. Besonders das Gretchen zog die Zuschauer in den Bann. Dann kam die berühmte Szene im Garten. Gretchen erklärt Faust, dass es kaum Zeit habe, weil im Haushalt so viel zu tun sei: „Wir haben keine Magd; muss kochen, fegen, stricken / Und nähn und laufen früh und spat …“ Und was sagte die Spielerin: .. muss kochen, fegen, ficken …“ Einen Augenblick Stille, dann brach es aus den Zuschauern heraus. Ein ungehemmter Aufschrei des Lachens, ein Glucksen und Prusten bei den Erwachsenen, die sich nichts anmerken lassen wollten, ein schier nicht enden wollendes Lachen erfasste den Zuschauerraum. Man sah in hellauf begeisterte Gesichter, weit aufgerissene Münder, in tränende Augen. Die Aufführung war geschmissen. Selbst als der Orkan sich gelegt hatte, flackerten immer wieder Glutnester des Lachens auf, war hier ein Glucksen, dort ein unterdrücktes Gickern, dort ein plötzliches Prusten zu hören, das die Nachbarn ansteckte. Man hatte Mitleid mit der armen Spielerin, aber was sollte man machen? Man stellte sich vor, wie es wohl zu solch einem Fehler kommen konnte. Wahrscheinlich war es schon auf den ersten Proben passiert, zum großen Gaudi der Mitspieler. Wahrscheinlich hatte man auf den Proben immer wieder diesen Witz wiederholt, bis der Spielleiter oder die Spielleiterin dem energisch ein Ende bereitet hat: „Wehe, wenn das in den Endproben passiert oder gar in der Aufführung.“ Vielleicht hat es in den letzten Proben geklappt, aber die Spielerin hat wahrscheinlich immer daran denken müssen, auf keinen Fall das F-Wort zu sagen. Ja, und dann passiert es eben. Ein unvermeidbares Scheitern.