„Das ist in Wirklichkeit auch so!“ oder: Wieviel Realismus braucht das Schultheater?

Vor zehn Jahren, am 23. Januar 2014, verstarb Franziska Steiof. In Gedenken an ihren zehnjährigen Todestag veröffentlichen wir hier das Manuskript eines Impulsvortrags, den sie auf dem Landesfachtag Darstellendes Spiel 2004 in Bad Oldesloe gehalten hat.

von Christiane Mangold und Tilmann Ziemke

Vor zehn Jahren, am 23. Januar 2014, verstarb Franziska Steiof. In Gedenken an ihren zehnjährigen Todestag veröffentlichen wir hier das Manuskript eines Impulsvortrags, den sie auf dem Landesfachtag Darstellendes Spiel 2004 in Bad Oldesloe gehalten hat.

Franziska Steiof war eine bekannte Regisseurin und Autorin im Kinder- und Jugendtheater. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Bekannt wurde sie durch ihre Aufsehen erregenden Inszenierungen am Werftparktheater in Kiel. Später arbeitete sie auch deutschlandweit und im Ausland, vor allem aber auch am Grips-Theater in Berlin. Mit Volker Ludwig zusammen schrieb sie mehrere Erfolgsstücke, die lange Zeit am Grips-Theater liefen. Aber Kiel war ihr Heimathafen, an den sie immer wieder zurückkam.

Wer sie kannte, war von ihrer Persönlichkeit fasziniert, von ihrer warmherzigen Art, ihrer Klarheit, ihrer Klugheit. Wir hatten das Glück, sie immer wieder für Fortbildungsveranstaltungen im Darstellenden Spiel gewinnen zu können. Von vielen Teilnehmer*innen an ihren Workshops wissen wir, wie viele Spielleiter*innen in Schleswig-Holstein sie als Theatermacherin beeinflusst und geprägt hat. Als sie am 23. Januar 2014 in Kiel den Freitod wählte, waren alle, die sie kannten und schätzten, zutiefst bestürzt.

In dem oben erwähnten Vortrag ging es als Impuls für das Thema des Landesfachtags um Realismus im Schultheater, also um ein Thema, das auch heute immer noch aktuell ist. Wir veröffentlichen hier ihr Vorbereitungsskript, das sie uns freundlicherweise damals überlassen hat. Es handelt sich nicht um einen ausformulierten Text, sondern eher um eine gedankliche Vorbereitung, die als Grundlage für ihren freien Vortrag diente.

Der Text stammt aus dem Jahr 2004. Wir haben nur die Rechtschreibung angepasst, den Text aber nicht in Hinsicht auf gendergerechte Sprache geändert. Auch inhaltlich merkt man dem Text an, dass seit seiner Entstehung 20 Jahre vergangen sind. So spielen die neuen Medien etwa noch keine Rolle. Grundsätzlich aber hat der Text für die Theaterarbeit mit Schülerinnen und Schülern an Aktualität nichts verloren.

Fall du dir das Impulsreferat für später abspeichern willst, kannst du es hier herunterladen:

Ansonsten findest du den gesamten Inhalt auch direkt hier zum Lesen:

Impulsreferat Fachtag Darstellendes Spiel

Bad Oldesloe am 13.11.04

9.00-10.00

Thema:

„Das ist in Wirklichkeit auch so!“ – Wieviel Realismus braucht das Schultheater?

Ich will im Folgenden versuchen

  • ein paar Grundbegriffe aus meiner Sicht zu klären und die Frage zu stellen, was Realismus im Theater überhaupt heißen kann;
  • Anregungen zu geben, um realistische Spielweisen mit Verfremdungstechniken anzureichern sowie kleine Videobeispiele aus Theaterproben zu zeigen;
  • Faktoren zu benennen, die unabhängig von Profi- oder Schultheater für Inszenierungen relevant sind.

1. Spiel/Rollenspiel/Theater - dies wird oft verwechselt und/oder vermischt

SPIEL

Mit Spiel wachsen wir auf, es ist zunächst ziel- und zweckfrei.

Es gibt Konkkurrenz, Gewinnspiele, Sportspiele, Phantasiespiele, Lernspiele (hier ist dann schon strittig, ob es um Spiel geht). Wesentliches Spielemerkmal ist aber, dass sie ergebnisoffen sein müssen – auch Lernspiele.

Es gibt die Spieltheorie, die sich im Wesentlichen mit dem Eintritt von verschiedenen Wahrscheinlichkeiten von möglichen eintretenden Ergebnissen beschäftigt.

Spiel hat gerade im Kinderalter viel mit Übernahme von Rollen zu tun, dies geschieht aber beiläufig, zwar abgesprochen, aber immer spielimmanent und in schnell wechselnden Besetzungen. Es geht hierbei nicht um möglichst genaue Darstellung der Rollen.

Immer lernen wir, wenn wir spielen – und das so „nebenbei“ Gruppenzusammenhänge, soziale Rollen, Ausdruck, Flexibilität, Empathie, Logik, Regeln, Rhythmus, Dramaturgie …

ROLLENSPIEL

Hier geht es eindeutiger um die Übernahme von verabredeten Rollen. Meist wird Rollenspiel eingesetzt, um menschliche Zusammenhänge in ihrem Zusammenwirken genauer zu begreifen.

Dies kann zu therapeutischen, pädagogischen, strategischen und auch theatralen Grundübungen eingesetzt werden – Rollenspiel allein macht kein Theater.

Rollenspiel als Element von Theater ist aber Grundbedingung, hier wird die Einfühlung in fremde Figur geschult, hier wird Psychologie und Erscheinungsbild eines anderen nachgeahmt, im besten Fall vermischt mit eigener, authentischer Ausdruckskraft.

Rollenspiel arbeitet noch nicht mit festgelegten Abläufen und Verabredungen. Insofern gehört es zur Findungsphase.

Dies allein macht noch kein Theater.

THEATER

Theater ist immer produktfixiert – es geht im Kern um das wiederholbare Zusammenspiel aller Faktoren, die die Aufführung ausmachen.

Dazu gehört meist ein Text. Wenn nicht (bsp. Tanz- oder Improtheater) gibt es andere Regeln, Verabredungen, die den Zeitraum der Aufführung regeln und fixieren.

Es gibt einen Gesamtrahmen, der Raum, Licht und Bühne sowie alle anderen einfließenden Faktoren beinhaltet.

Zentral ist aber: Theater braucht Publikum. Hier Abgrenzung zu Rollenspiel!

Theater will wirken! Und richtet sich nach außen, auf eine Aufnahme des Gezeigten.

Deshalb: „Wir spielen alle Theater“ so falsch – Verstellung, unterschiedlich Rollenübernahmen machen noch kein Theater.

Theater braucht im Kern:

  • eine Geschichte,
  • Spieler,
  • einen Raum,
  • Zuschauer.

(Regie ist erst später dazu gekommen ...)

2. Theater zwischen Realität und Kunst

    (Hier absichtlich keine Trennung zwischen Schauspielern und Schülern)

    FRAGE: WAS IST REALISMUS? Unterschied zu real!

    Theater ist in seiner Entstehungsgeschichte immer schon mehr als die reine Abbildung von Wirklichkeit gewesen – denken wir an den griechischen Chor.

    Das Individuum wurde dargestellt in Konflikt mit den Göttern oder anderen Menschen/gruppen – hier ist schon die erste Verfremdung/Überzeichnung des individuellen Lebens immanent.

    Warum?

    Weil Theater sich damit beschäftigt, das BESONDERE im Allgemeinen zu suchen.

    Umgekehrt auch das ALLGEMEINE im BESONDEREN?

    Immer ist Theater auf der Suche nach der Bearbeitung/Verarbeitung von Realität.

    In welcher Form es das tut ist freigestellt, hier gibt es endlose Varianten. Lehrer hören oft: Wir wollen es so spielen, wie es in Wirklichkeit ist. Hier spielen soaps und TV-Kultur eine große Rolle.

    Natürlich wirken soaps realitätsnah – das ist eben ihre Kunst. Aber sie greifen zielgerichtet Konflikte auf, die sich sonst wohl selten in dieser Konzentration aneinanderreihen.

    Und sie arbeiten als Film“kunst“ mit Schnitten, mit Einsatz von Musik, mit

    Spannungsauf- und abbau (Dramaturgie) – auch hier gibt es ein Gesamtkonzept und eine Bearbeitung von Realität.

    Theater beinhaltet immer:

    • einen Konflikt,
    • eine Geschichte,
    • Figuren, die im Rahmen agieren,
    • das Vermitteln von Athmosphäre (Raum, Musik, ...),
    • eine spezielle Spielweise.

    (Film erfordert andere Spielerqualitäten als Theater ...Bsp.)

    Theater greift aber ebenso zentral Realität auf – sei es so ausdrücklich wie das Berliner

    Grips Theater die subjekte Realität von Aufwachsenden thematisiert.

    Seien es Klassiker, die soziale, gesellschaftliche Umstände zum Ausgangspunkt ihrer Werke machten.

    „Kabale und Liebe“ - damals Entsetzenssturm, weil Luise die erste bürgerliche Heldin war und somit Zeichen eines gesellschaftlichen Umbruchs.

    Freier gehen Ansätze wie z.B. Tanztheater mit Realität um – hier geht es oft um innere Realitäten, sehr subjektives Interpretieren von Wahrnehmung.

    Bsp. Pina Bausch und Thema Geschlechterrollen oder Thema Angst.... What ar you afraid of?

    Selbst bei ausdrücklich realistisch angelegten Stücken (ich definiere hier realistisch als an Alltagserleben angelegten Inhalten und Formen), findet auf der Bühne immer eine Bearbeitung statt.

    Die Echt-zeit, die Echt-situation gibt es im Theater generell nicht.

    Diese Themen den Schülern öffnen.

    Tip: Filme unterschiedlicher Genres sehen und auf Bearbeitung hin analysieren! Ebenso: Theaterstücke unterschiedlichster Inhalte und Umsetzungen gemeinsam besuchen und analysieren. Focus ist hierbei: wie haben die was gemacht/umgesetzt? Stichwort: Wahrnehmungsschulung und ästhetische Bildung!

    Vergleichende Betrachtung von Medien Film und Theater.

    Dies „erspart“ einige Diskussionen über „Realität“ im Theater bzw. bringt sie auf ein anderes Niveau.

    ES GEHT IMMER UMS HANDWERK.

    3. Was ist eine Inszenierung?

      Grundsätzlich begreife ich Inszenierung als das gestaltete Gesamtwirken einer Theaterauffürung. Dies beinhaltet Konzept, Dramaturgie, Regie, Bühne, Kostüme, Musik, Licht …

      In jeder Inszenierung gibt es feste Größen - z.B. Gruppengröße, Geschlechterverteilung, Unterrichtszeiträume/Probenzeiträume, Level der Schüler, Aufführungsdaten.

      Es gibt weiche Größen wie die Gestaltung jeder Unterrichtseinheit, möglicherweise der

      Entscheidung über einen Text oder ein Thema in der Gruppe.

      Kollektiv kann keine Inszenierung durchgeführt werden, da sie vom Blick „von außen“ lebt und konzipiert wird.

      Dies wird voraussichtlich in der Verantwortung des Lehrers liegen, er kann jedoch weitestgehende Transparenz über pädagogische und vor allem ästhetische Entscheidungen ermöglichen und somit die Schüler zu „Mitwissern“, zum verabredeten Teil auch „Mitentscheidern“ machen.

      Dies ist vor allem wichtig, wenn es um künstlerische Gestaltung/Stilmittel geht – es gibt eine Bildung des Sehens, der Wahrnehmung – jede Inszenierung ist eine Untersuchung, was dem Thema, den Spielern, dem Stück DIENT.

      Es gibt aber immer den sogenannten „unnennbaren“ Anteil – die aus der Seele und der künstlerischen Persönlichkeit des Inszenierenden und der Spielenden erwächst.

      Hier alle gemeinsam entscheiden zu lassen, verwischt den Gesamtstil und behindert oft genug das vertrauensvolle Spiel der Schüler.

      4. Möglichkeiten von Stilisierung

        Dies kann nur eine Annäherung an mögliche Stilmittel des Theaters sein – ich versuche im Folgenden Stilisierungsmittel auf grundsätzliche Punkte herunterzubrechen.

        Diese wiederum bergen aber vielfältige Variationen und unendliche Kombinationsmöglichkeiten.

        a. Überzeichnung

          Wir nehmen einen Vorgang – z.B. müde Schüler im Unterricht – und wollen diesen fokussieren. Methode ist hierbei die Verstärkung der ohnehin vorhandenen Impulse (Gähnen, aus dem Fenster schauen, SMS tippen„.) und suchen eine Form, in der wir diese Vorgänge durch timing und Anhäufung überdeutlich machen.

          Oder wir möchten eine Atmosphäre, eine Verhaltensweise deutlich hervorheben: bsp. eine schrille laute Stimme. Dann lassen wir die Spielerin lange und besonders hoch schreiben oder benutzen ein Mikrophon.

          b. Rythmisierung/Choreographie

            Entstehen. Beispiel: Alle Schüler gucken gleichzeitig auf Handy, tippen im 4-er-Rhythmus etwas ein und sagen dann gemeinsam „cool“.

            Werden Bewegungsabläufe strukturiert und in Form gebracht, geht es schon in den Bereich Choreographie. Mithilfe von Sounds, Klängen und Musik kann Bewegungsmustern eine andere Kraft, ein anderer Boden gelegt werden.

            Beispiel: Marthaler, ruhige Rhythmisierung von Alltagsabläufen wie Warten, am Kopf Kratzen bis hin zu Tanzchoreos

            c. Verfremdung

              In der Verfremdung bekommt ein Vorgang einen ganz anderen Effekt „dazu“ oder zeigt etwas ganz anderes, als er eigentlich in sich beinhaltet.

              Beispiel: Wir zeigen Lehrer in einer Lehrerkonferenz, die sich mit Notengebung beschäftigt. Dann zeigen wir dieselbe Szene einmal mit Kinderutensilien (Schippe, Schaufel) und dann einmal in Handwerkerkluft (Schraubenschlüssel, Wasserwaage ...)

              So entsteht eine starke Interpretation des realen Vorgangs, die eine neue Bedeutungsebene eröffnet.

              Verfremdung funktioniert aber auch ganz pur: wir spielen eine Familienszene und setzen alle Spieler statt an den runden Tisch frontal zum Publikum. Gleiche Dialoge wie vorher – völlig andere Wirkung.

              d. Kombinieren

                Dabei stellen wir scheinbar nicht passend empfundene Elemente nebeneinander und bewirken damit eine neue Wahrnehmung.

                Beispiel: Wir lassen die Schüler auf Technomusik tanzen und spielen dazu eine klassische Bach-Musik ein. Oder umgekehrt.

                Wir haben eine zarte Liebesszene und lassen das Liebespaar auf einer Metallplatte liegen. Wir hängen einem sehr jungen Spieler einen Bart um – offensichtlich.

                e. Übersetzung

                  Oder: wir wollen einen Vorgang zeigen, der so nicht „spielbar ist“, wie z.B. eine Reise oder eine lange Annäherung. Dann suchen wir konkrete Spielvorgänge, die den Vorgang deutlich machen, ohne ihn in seinen Einzelteilen zu zeigen. (Beispiel: Schiff und Schultertragen, oder Missbrauch oder Krieg ...)

                  Dazu gehört die Analyse der Faktoren, die den gewünschten Vorgang ausmachen, ihn in seinem Kern zeigen bzw. erkennbar werden lassen.

                  Wenn wir diese spielerischen Elemente bestimmt haben, können wir sie abwandeln – „übersetzen“ in andere Zusammenhänge. Es wird sich die gleiche Assoziation herstellen.

                  5. Videobeispiele und öffentliche Reflexion darüber

                    Zeigen von Beispielen stilisierter Bearbeitung und Rückmeldung der Teilnehmer, was sie gesehen haben und wie es funktioniert hat.

                    6. Praxis

                      Theater ist als Medium prädestiniert für den Umgang mit dem „Fehlenden „, den beschränkten Möglichkeiten.

                      Wir brauchen die Spieler, wir brauchen die Phantasie und die Lust am Untersuchen.

                      Wir brauchen Logik und Intuition.

                      Zuallererst brauchen wir aber Wahrnehmung. Jeder, der genau wahrnimmt, analysieren kann und in der Lage ist, von seinen eigenen Vorstellungen abzusehen, wird den wichtigsten Schritt zum Theater finden.

                      „Der Kunst nicht im Weg stehen“.

                      Beispiel: Lehrer, der etwas gesehen hat, was keiner gespielt hat.

                      Alles, was stattfindet, aber übersehen wird, weil der Blickfokus zu eng ist.

                      Regisseur ist Sucher und in der Pädagogik vor allem FINDER.

                      Starkes Plädoyer also dafür, die Reflexion in die Arbeit mit Schülern, altersgemäß, einfließen zu lassen.

                      Es geht um das Handwerk des Theaters, so wie man beim Zeichnen den Stift halten muss, so wie man beim Musizieren Noten lernen sollte.

                      Natürlich wollen Schüler in erster Linie spielen, aber sie spielen besser, wenn sie auch in der Wahrnehmung geschult werden und sich in einen Gesamtzusammenhang stellen können.

                      Der Lehrer ist dabei der Vermittler, der Anleiter, er darf die Gesamtverantwortung nicht abgeben, kann und soll Probenregeln entwerfen, die für alle gelten und das Theaterstück als gemeinsames Experiment auffassen.

                      Am Schluss steht immer die Ausrichtung auf das Publikum und in diesen Zusammenhang sollte die Arbeit auch gestellt werden.