Folge 5 – Wahrnehmung oder „Ich spür überhaupt nichts!“
Eine Wahrnehmungsübung habe ich von ihr übernommen und immer gerne mit meinen Gruppen praktiziert. Ich weiß nicht mehr, ob Franziska einen Namen dafür hatte, ich habe diese Übung immer „Hand am Ohr“ genannt.
Hand am Ohr
Zwei Spieler*innen setzen sich möglichst dicht hintereinander auf den Fußboden. Das geht am leichtesten, wenn die Hintere sich so setzt, dass die Vordere zwischen ihren gespreizten Beinen sitzt. Die Vordere macht die Augen zu, die Hintere hält ihre rechte oder linke Hand an das rechte oder linke Ohr der vor ihr Sitzenden. Die soll spüren, an welchem Ohr die Hand ist. Sie überprüft ihre Vermutung, indem sie hinfasst. Je näher die Hand am Ohr ist, desto leichter ist es für die Vordere. Nach einiger Zeit sagt die Spielleitung den Rollentausch an. Das Ziel: Die oder der Hintere soll herausfinden, wo genau (Abstand vom Ohr) die Wahrnehmungsgrenze des Partners ist.
Während dieser Übung soll es absolut still im Raum sein. Die Spielleitung muss unbedingt darauf hinweisen, dass nicht geredet werden darf.
Diese Übung haben meine Schüler*innen immer sehr geliebt. Manche nehmen einen Schatten wahr, manche verspüren einen Druck auf den Ohren. Die Übung ist auch hervorragend geeignet, Empathie zu trainieren. Der Fokus liegt dann auf dem hinten Sitzenden. Er oder sie soll es dem Vorderen nicht zu schwer, aber auch nicht zu leicht machen. Er muss also experimentieren, um die Wahrnehmungsgrenze bei seinem Partner oder der Partnerin herauszufinden.
Franziska erzählte zur Übung die Reaktion eines Schauspielers, der völlig verzweifelt schrie: „Ich spür überhaupt nichts!“
Apropos Spüren: Ich habe mit meinen Gruppen auch immer gerne einen Schabernack getrieben. So habe ich einmal einer Gruppe gegenüber behauptet, ich sei so sensibel, dass ich die Energie der Akteure spüren könne, auch wenn die gar nicht mehr auf der Bühne seien. Dazu schlug ich folgendes Experiment vor: Die Schüler*innen sollten sich alle zusammen in einem Pulk auf einem Quadranten der Bühne versammeln und dort etwa eine halbe Minute verweilen. Ich würde vorher in einen Nebenraum gehen und deshalb nichts davon mitbekommen. Anschließend würden mich die Schüler*innen holen, ich würde auf die Bühne gehen und ihnen sagen, wo sie sich versammelt hätten, z. B. hinten links oder vorne rechts usw.
Der Trick bestand darin, dass ich mich mit einem Schüler verabredet hatte. Der holte mich aus dem Nebenraum ab und sagte etwas dazu: „Das schaffen Sie nie!“ Das waren vier Wörter und für mich das Zeichen, dass der Pulk im vierten Quadranten gestanden hatte, also vorne rechts (im Uhrzeigersinn von vorne links an gezählt). Oder er sagte: „Wir sind gespannt.“ Also dritter Quadrant: hinten rechts. Wir haben das immer nur einmal zum Beginn der Probe gemacht, weil ich sagte, dass mich das zu sehr anstrenge. Also nächste Woche wieder dasselbe und immer klappte es. Einmal versuchten die Schüler mich hereinzulegen, sie hatten sich gar nicht auf der Bühne versammelt. Mein Mitwisser holte mich, ohne ein Wort zu sagen, aus dem Nebenraum. Das war nicht abgemacht. Also ging ich auf die Bühne, schritt die vier Quadranten ab und sagte: „Tut mir leid, ich hab wohl einen schlechten Tag, ich spüre hier gar keine Energie.“ Die Schülerinnen und Schüler waren wütend. Sie glaubten mir kein Wort. Sie gaben mir eine Bewachung für den Nebenraum an die Seite, auch zwei, es nützte nichts: Sie bekamen es nicht heraus.
Ich habe es nie verraten, auch mein Mitspieler nicht.